19./20. September 1622 – Kalendereintrag zum 19.09.2022

Ein Datum, das für Kreuznach und seine Bibliotheken nicht uninteressant geworden ist, trug sich mit dem 19. September 1622 zu. An diesem Tag oder einen Tag später gelang der katholischen Liga die Einnahme Heidelbergs, das Zentrum des protestantischen Widerstands gegen die katholische Kaisermacht, nachdem knapp zwei Jahre zuvor der pfälzische Kurfürst Friedrich, den man dann auch der Niederlage wegen, den Winterkönig nennen sollte, in der Schlacht am Kahlen Berg bei Prag schwer geschlagen worden war.

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Zeitgenössische Darstellung der Belagerung von Heidelberg.
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Belagerung Heidelbergs durch die kaiserlichen Truppen (1. Juli bis 20. September 1620; British Museum): „Abriß der Notabel Belagerung der Chur-Pfälzischen Residenz Statt Heidelberg wie solche von kayserlich-Bayerischen mit stürmender Hand erobert und darauff das Schloß übergeben worden“.
Leone Allacci (Leo Allatius), Porträt im Collegio Greco, Rom

Der bayrische Herzog Maximilian, der sich vom Kaiser für seine Kriegsanstrengungen die pfälzische Kurfürstenwürde (neben anderem) ausbedungen hatte, wies seinen Feldherrn Tilly an, die in Heidelberg aufgebaute berühmte Bibliothek nach München zu expedieren, wurde dann aber vom päpstlichen Unterhändler Leone Allacci genötigt, sie an Papst Gregor XV. nach Rom zu transportieren. Andere Quellen behaupten, Maximilian schenkte die Bibliothek aus freien Stücken dem Papst. Dass allerdings die Arbeiten zur Einarbeitung der Heidelberger Bücher in den Besitz Maximilians schon angelaufen waren, sieht man an Besitzerstempeln, sog. Exlibris, aus dem Jahr 1623, so z.B. im Codex Palatinus latinus 833, wo der Stempel auf dem zweiten (ungezählten) Vorsatzblatt angebracht ist (Quelle).

So geschah es, die zu diesem Augenblick wohl größte und einzigartigste, wertvollste und umfassendste Bibliothek nördlich der Alpen machte sich mit anderen Bibliotheken (darunter die kurfürstliche, die Universitätsbibliothek, die Kanzleibibliothek und die Privatbibliothek des Bibliothekars Jan Gruter) auf den Weg, in Rom die päpstliche Bibliothek, die nicht unbedeutend und sicher die älteste des christlichen Abendlandes zu sein schien, sowohl in Größe als auch an Inhalt, vor allem an reformatorischem „Ketzer“-Schriftgut, zu stärken.

Keine 200 Jahre später wanderten dann Teile der römischen Bibliothek – jetzt erneut als Kriegsbeute – wieder über die Alpen, allerdings dieses Mal ins siegreiche Paris Napoleons, um dort in die Bibliothèque nationale de France integriert zu werden, wo sie heute – trotz der Versuche im 20. Jahrhundert – immer noch verharren. Teile der Heidelberger Handschriftensammlung wurde im Zuge der Verhandlungen während des Wiener Kongresses (1816) an die Universitätsbibliothek Heidelberg zurücktransferiert. Alles in allem eine sehr konfuse, teilweise auch widersprüchliche Gemengelage, aus der heute keine sichere Zuweisung möglich ist, wo sich ein Buch, eine Handschrift oder ein diesbezüglicher Druck aus dem alten Heidelberger Bestand von 1622 (und davor) befindet.

Weshalb wir an diese Episode in Kreuznach erinnern, liegt auf der Hand: mit der Säkularisierung der katholischen Pfalz 1565 durch den Konfessionsübertritt der pfälzischen Kurfürsten wurden alle kirchlichen Bibliotheken und Schulen verweltlicht, darunter eben auch markante Stücke der Klosterbibliothek in Sponheim und Teile der Bibliothek des Franziskanerklosters „St. Wolfgang“. Große Teile dieser Bestände gingen auf einen Weg nach Heidelberg, wo sie dann 60 Jahre später die „Beute des päpstlichen Bibliothekars Allacci, ein griechisch-orthodoxer Glaubenskonvertit, wurde.

Jan Gruter (3.12.1560–20.9.1627 [greg.])

Jan Gruter, der pfälzische Bibliothekar, Schriftsteller und Universalgelehrte, konnte dem Abtransport auf ungefähr 200 Mauleseln nur zusehen, ihn aber auch nicht mehr verhindern. Jedoch hat die Heimatwissenschaftliche Zentralbibliothek auch Glück: Eines seiner Werke (das VD-Werkverzeichnis des 17. Jahrhundert weist Gruter 117 Publikationen zu), die Sammlung der lateinischen Inschriften „Inscriptiones antiquae totius orbis Romani“ (ein zweites Exemplar in der BSB München), 1603 in Heidelberg erschienen, befindet sich im Bestand der HWZB.

Jörn Kobes
Historiker, Verleger, Designer, Vater, Schiedsrichter